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Kabarettist Jürgen Becker erklärt in Visbek den Einfluss von Musik auf Politik und Gesellschaft

  • Autorenbild: Gemeinde Visbek
    Gemeinde Visbek
  • 6. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit

Von Gerd Lauer


„Die Erfindung der E-Gitarre hat die Musik, die Politik und die Welt verändert.“ Sagt Jürgen Becker. Und während seines rund zweistündigen Programms „Deine Disco – Geschichten in Scheiben/Wie Musik Politik macht“ im Forum der Visbeker Benedikt-Schule untermauert der Kölner Kabarettist, Autor und Fernsehmoderator diese These anhand unzähliger Beispiele. Dabei spannt er mühelos und mit viel Humor den Bogen von der Steinzeit bis heute, wobei er für jeden seiner Beweise ein aussagekräftiges Tondokument einspielt. „Flowerpower, Hippies, die 68er, all das hätte es ohne E-Gitarre so nicht gegeben“, ist er sicher, und fährt dazu den Regler hoch, um kurz Jimi Hendrix einzuspielen mit seiner Interpretation der US-Hymne, die er auf dem Woodstock-Festival in ihre Einzelteile zerlegte. Mit einer Bratsche bewege man nicht die Welt, so Becker. Eine E-Gitarre zu zerhacken, sei seinerzeit ein Statement gewesen, „wenn jemand seine Bratsche zerhackt, weint keiner“.


Lieder seien früher Schlaf- und Kinderlieder gewesen, mit denen Mütter ihren Nachwuchs beruhigten. Überhaupt: Die Mama sei für jedes Ungeborene die erste Disco: Es gebe „all you can drink“ und neun Monate lang töne der Herzschlag der Mutter wie eine Basstrommel. Heute habe die Wissenschaft längst belegt, dass Kinder, die zwei Stunden Musik auf dem Stundenplan haben, besser in Mathe sind – später übrigens auch im Bett. Viele Mütter berieselten sich während der Schwangerschaft mit Mozartmusik, damit das Kind musikalisch werde. Er habe von einem Klempner gehört, der seiner Frau täglich 30mal die Klospülung vorgespielt habe in der Hoffnung, dass das Kind den Betrieb übernehme. „Es soll geholfen haben“, sagt Becker. Aus dem ersten Schrei eines Neugeborenen habe sich unter anderem die Oper entwickelt – und Joe Cocker sei in Woodstock mit seinem Schrei im Beatles-Titel „With a little help from my friends“ der internationale Durchbruch gelungen.


Becker wies auch auf große Unterschiede in der Musik zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern und Gesellschaften hin. Das für die Entwicklung der Popmusik wegweisende Pink-Floyd-Album „The Dark Side of the Moon“ sei 1973 in den USA auf Platz 1 der Charts gewesen, in Deutschland nur auf Platz 3 hinter James Last (2) und Rex Gildo (1). Beckers Vermutung: Was will man auf der dunklen Seite des Mondes, wenn man mit Rex Gildo und „Fiesta Mexicana“ eine tolle Sommerparty feiern kann? „Da kann man wenigstens mitsingen. Versuchen Sie das mal zu Pink Floyd.“


In Köln habe sich die Musikszene anders entwickelt als im Rest Deutschlands, so Becker. Im „Hoch auf dem gelben Wagen“ von Bundespräsident Walter Scheel möchte man „gerne noch schauen, aber der Wagen, der rollt“. Das erinnere ihn an einen Paketfahrer von DHL, der immer schon wieder weg sei, bevor man es aus dem ersten Stock an die Haustür geschafft habe. Auch „Im Märzen der Bauer“ werden von früh bis spät gearbeitet. „Kölner Lieder handeln nie von Arbeit“, weiß Becker und spielt das Lied „D’r Mürer“ (Der Maurer) von Bläck Fööss ein. „Das hat zig Strophen, aber gearbeitet wird da nicht.“ Das Lied endet mit „Ich bin dann weg bis Dienstag. Mach‘s gut“. „Die heute vielfach geforderte 4-Tage-Woche wird in Köln schon seit ewigen Zeiten gelebt“, folgert er.


Die Musik habe die Entwicklung der Friedens- und die Frauenbewegung sehr befeuert, erzählt Becker. Dass Frauen ohne Einwilligung ihres Mannes arbeiten gehen können, dass Frauen im Bundestag Hosen tragen oder auch der Sex ohne Trauschein: „Dies alles wäre ohne die E-Gitarre nicht so gekommen,“ ist er sicher. Der Einfluss der Musik spiegle sich auch wider im Namen der Politrockband „Ton Steine Scherben“ (assoziativ angelehnt an die Industriegewerkschaft „Bau-Steine-Erden“), die in der Hausbesetzerszene sehr aktiv gewesen sei. „Hausbesetzungen hat es in Köln auch gegeben, aber politischer Protest hat da nur eine Chance, wenn man dazu schunkeln kann“, erklärt Becker. Ein Mittelweg sei aus Holland gekommen mit den „Bots“ und den Songs „Aufsteh’n“ und „Sieben Tage lang“: „Da konnte man moralisch auf der richtigen Seite stehen, aber dennoch den ganzen Tag feiern und saufen!“


Ganz unterschiedlich habe sich auch die Musik in den beiden deutschen Staaten entwickelt, sagt Becker. Das habe schon mit der Hymne angefangen. Im Osten „Auferstanden aus Ruinen“ („Das singt der Kölner am Aschermittwoch“), im Westen erstmal nichts. „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ hätte man ja nicht singen können. „Da hätten die Flüsse schon sehr stark über die Ufer treten müssen“.  Auch die Art der Lieder sei sehr unterschiedlich gewesen. Im Osten sangen „Silly“ von „Verlorenen Kindern“, während im Westen „Hier kommt der Eiermann“ von „Klaus und Klaus“ populär war.


Welche historische Kraft die Musik haben könne, habe sich beim Zusammenbruch des SED-Regimes der DDR gezeigt. Weil westliche Musik auf Konzerten dort verpönt war, habe der damalige evangelische Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann vorgeschlagen, solche Musik im Gottesdienst zu spielen. Von zunächst 50 habe sich die Zahl der Zuhörer in den folgenden Wochen auf Tausende in mehreren Kirchen gesteigert. Leider, so Becker, gebe es vom Mauerfall keine gemeinsamen Lieder. Stattdessen hätten Deutsche aus Ost und West zum „Griechischen Wein“ von Udo Jürgens getanzt. „Ein Österreicher zur Wiedervereinigung. Dabei war es auch ein Österreicher, der uns 50 Jahre zuvor alles eingebrockt hat“, bedauert Becker.


Dass die Wiedervereinigung vor allem im Osten auf Ablehnung gestoßen sei, habe damit zu tun, dass der damalige Kanzler Helmut Kohl „blühende Landschaften“ versprochen habe. Angesichts der hohen AfD-Zustimmung seien allerdings „viele Pissnelken dabei“. Dabei gebe es etliches, was man aus der DDR hätte übernehmen können, zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frauen, die Verfügbarkeit von Kindertagesplätzen, die polytechnische Ausbildung, die universelle Pfandflasche und die Musik, so Becker.


Während die jeweiligen Soundtracks Flowerpower, Hippies, die 68er, Frauen- und Friedensbewegung befeuert hätten, passiere in der Klimabewegung wenig, auch wenn sie alle Wissenschaftler auf ihrer Seite habe. Ihr fehle die entsprechende Musik: „Ohne Groove kein move“, fasst Becker zusammen. Raser („Born to be wild“) hätten einen sinnlicheren Soundtrack als Klimaschützer.


Angesichts begrenzter Ressourcen auf der begrenzten Erde schlug der Kabarettist vor, statt ewigen Wachstums unser Wirtschafsvolumen um 50 Prozent zu verringern auf das Niveau von 1978: Damals habe es die geringste Arbeitslosigkeit gegeben, den Suff habe es in der Kneipe gegeben, aber keine SUV, nicht 1000 Influencer, sondern nur Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer, und Boney M. hätten von „Daddy Cool“ gesungen. „Was wir brauchen, ist ein Soundtrack und Mut zur Entrümpelung.“


Nach starkem Beifall gab Becker, der auf Einladung des Kulturkreises nach Visbek gekommen war, zwei Zugaben: eine musikalische („Ich brauche keine Millionen“) und eine kulinarische in Form von mehreren Kisten Kölsch.


Hatte das Publikum im Griff: Kabarettist Jürgen Becker überzeugte mit seinem Programm "Deine Disco". Foto: Hermes
Hatte das Publikum im Griff: Kabarettist Jürgen Becker überzeugte mit seinem Programm "Deine Disco". Foto: Hermes


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